Wenn Wiki einen Watcher hat

Wikipedia, das Online-Nachschlagewerk, wurde vor über 10 Jahren ins Leben gerufen. Für die deutsche Version gibt es nun seit etwas über einem Jahr ein „Wiki-Watch“, einen Beobachter, der von einem Journalismus-Professor aus Frankfurt an der Oder ins Leben gerufen wurde. Dieser Professor, Prof. Dr. Wolfgang Stock, wünschte sich scheinbar nichts sehnlicher, als das deutsche Wikipedia zu verbessern. Eigens zu diesem Zweck eilte er Wikipedia zur Hilfe und lieferte eigene Beiträge und Korrekturen – in Medizinartikeln(!). Ja, es ist schon seltsam, wenn Journalisten anfangen, sich medizinisch zu betätigen, auch wenn sie Professoren sind.

Aber unser Professor hatte dann auch die richtige Ausrede parat: „Warum habe ich im April 2009 einen Artikel über ein Insulin angelegt und an anderen editiert? Weil ich von Diabetes ganz persönlich betroffen bin. Meine Großmutter hat enorm darunter gelitten, Freunde auch. Damals war das Thema in der Presse. Da habe ich die WP-Lücken mit meinem bescheidenen Wissen geschlossen.“ Na prima!

Wenn er damals schon die enormen Wissenslücken der Mediziner hätte schließen können, dann hätten seine Großmutter und Freunde nicht so sehr leiden müssen. Und ein Professor benötigt auch nur „bescheidenes Wissen“, um damit null-Komma-nix eklatante Lücken zu schließen, die von den Fachleuten all die Jahre zuvor nicht zu schließen waren. So weit unsere schöne professorale Märchenstunde.

Die Realität sieht indes deutlich düsterer aus. Hier hat Herr Stock nämlich nachweisbar unter verschiedenen Pseudonymen in Wikipedia bestimmte Medizinartikel verändert, trat unter „Wsto“ und „Investor“ auf. So getarnt als eine Art „Wiki-Zorro“ kämpfte er fortan für das Wohlergehen einer Pharmafirma, Sanofi-Aventis, indem er die Artikel in Wikipedia zu deren Gunsten veränderte und zusammenstrich.

Natürlich stellt man sich sofort die Frage, warum ein Journalist ein solch gediegenes Interesse an einer Pharmafirma hat. Die Antwort lautet: Weil Herr Stock gleichzeitig zu seiner Professur in Frankfurt im Osten eine Agentur namens Convincet für „Krisen-PR “ betreibt und Sanofi sein zahlender Kunde ist. Und Sanofi ist ein Insulinhersteller. Aber an dieser Stelle stellt sich eine weitere Frage: Warum braucht Sanofi die Schützenhilfe des Professors? Die Antwort: Lantus ist ein Produkt der Firma Sanofi und wird als Insulinanalogon bei der Diabetesbehandlung eingesetzt.

Wer oder was ist Lantus?

Lantus ist der Handelsname für Insulin glargin von der Firma Sanofi-Aventis. Dies ist ein Insulinanalogon und wird bei Diabetes Typ-1 und Typ-2 eingesetzt. Es zählt zu den sogenannten Basal-Insulinen, die eine lange Halbwertszeit besitzen und dementsprechend lange wirksam sind. Der Wirkstoff wird aus genetisch veränderten Mikroorganismen gewonnen und unterscheidet sich nur geringfügig von körpereigenem Insulin. Unter allen Verzögerungsinsulinen hat es die längste Halbwertszeit und wird somit deutlich langsamer vom Organismus aufgenommen. Dies ermöglicht oft eine Einmalgabe. Das Protein Insulin glargin wirkt, indem es sich an Insulinrezeptoren bindet und durch deren Aktivierung die Glukosespiegel senkt. Die Bindung an die Rezeptoren fällt dabei deutlich stärker aus als die von körpereigenem Insulin. Die Substanz wird subkutan (unter die Haut) appliziert.

Warum die Aufregung?

Das Präparat ist schon seit dem Jahr 2000 auf dem Markt. 2009 jedoch veröffentlichte das IQWiG (Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) unter Peter Sawicki eine umfangreiche Analyse der bereits vorliegenden Studien und kam zu dem Schluss, dass das Präparat bei der Behandlung des Diabetes Typ-2 keine Vorteile im Vergleich zu älteren Präparaten vergleichbarer Natur hat. So konnte die Substanz keine Verbesserung von Mortalität, Blutzuckereinstellung, Retinopathien (Augenhintergrunderkrankung) oder Anzahl von Krankenhausaufenthalten erzielen. Einziger Vorteil von Lantus war die geringere Wahrscheinlichkeit von Hypoglykämien.

Offenbar hat diese schmähliche Expertise des Sawicki-Teams Professor Stock veranlasst, an seine Großmutter zu denken und mit der Änderung von Sanofi-Seiten und vor allem von IQWiG-Seiten auf Wikipedia zu beginnen. Laut „Spiegel“ hat er damals systematisch „Wikipedia-Artikel über den Pharmakonzern Sanofi-Aventis und sein Analoginsulin Lantus beschönigt. Außerdem überzog Stock das unabhängige Medizin-Prüfinstitut IQWiG ebenso mit Kritik wie dessen damaligen Leiter Peter Sawicki.
So „verbesserte“ er bescheiden als „Wsto“ im April und Mai 2009 gleich 10-mal Sanofi-Artikel in Wikipedia, 23-mal IQWiG-Artikel und 2-mal Sawicki-Artikel. Dazu kamen noch 7 Überarbeitungen des Lantus-Artikels und einen Artikel über seinen außeruniversitären Brötchengeber Chris Viehbacher, der CEO von Sanofi. Wenn das seine Großmutter noch miterleben durfte!

Im Juni 2009 allerdings kommt es noch schlimmer: Die Tagesthemen lassen vermelden, dass Lantus möglicherweise Krebs erregen kann. Auch hier gibt es wieder einen Tsunami an medizinwissenschaftlichen Studien, die alle das beweisen, was sie beweisen wollen. Die einen sehen ein erhöhtes Risiko im Vergleich zu Humaninsulin, die anderen können nichts entdecken. Und wenn die Herren Mediziner schon keinen gemeinsamen Nenner finden können, dann schreit das doch förmlich nach einem Einschreiten von professoralem Journalismus! Während Sanofi sich bei den „Tagesthemen“ wegen der Ausstrahlung beschwerte, ging Herr Stock den steinigeren Weg. Er beschwerte sich beim Presserat des „Spiegels“, denn der hatte ebenfalls eine Lantus-Studie von IQWiG-Autoren zitiert.

Und um das Fass dann endgültig überlaufen zu lassen, hat der Professor geschickterweise das gemacht, was gegen die Wikipedia Etikette verstößt: einen „Sockenpuppen-Einsatz“. Darunter versteht man die Nutzung mehrerer Namen, die „Sockenpuppen“, um den Eindruck zu erwecken, dass nicht nur der Herr Professor, sondern auch noch andere der gleichen Meinung sind. Da die Wikipedia-Administratoren sich nicht von Herrn Stocks vehementen Dementis überzeugen ließen, sind beide Pseudonyme seit Mitte 2011 bei Wikipedia gesperrt, wegen „missbräuchlichem Sockenpuppen-Einsatz“.

Der Krisenberater in der Krise

Professor Stock behauptet fest, dass er den Namen „Investor“ nie benutzt habe und damit auch kein „Sockenpuppen-Gängster“ ist. Dummerweise veröffentlichte er einen Eintrag auf seiner Facebook-Seite, wo er zugibt, einen Artikel zum Thema Insulin angelegt zu haben. Der Insulinartikel auf Wikipedia über Lantus aber ist nicht von „Wsto“ sondern von „Investor“ angelegt worden. Komisch. Diese „Komik“ oder Teile davon scheinen bei seinem universitären Brötchengeber angekommen zu sein. Denn hier hatte er eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass er, seitdem er Leiter von Wiki-Watch an der Universität Frankfurt Oder sei, keine Wikipedia-Artikel geschrieben oder bearbeitet hat. „Investor“ hat aber ungeachtet dessen seit Bestehen von Wiki-Watch kräftig weiter geschrieben und korrigiert. So z.B. auch über eine Firma namens „Media Tenor“. Und was hat die mit Professor Stock oder „Investor“ zu tun? Bei dieser Firma war Herr Stock einst Geschäftsführer. Seltsame Zufälle…

Und es kommt, wie es kommen musste. Der Chef von Professor Stock, Herr Wolff Heintschel von Heinegg, Leiter des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, gab Herrn Stock eine Frist bis Ende August 2011, diese Ungereimtheiten auszuräumen oder sei ist Schluss mit Wiki-Watchen. Und so wurde dann auch im September in einer sehr vage gehaltenen Pressemitteilung verkündet, dass Herr Stock sich aus der Leitung des „Wiki Watch“-Projektes zurückziehe. Die Universität hatte offenbar keine Lust, ihren Ruf zu Gunsten der Stock´schen Spielchen aufs Spiel zu setzen. Er ist jedoch weiterhin Teil des Teams und Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina.

Doch die ganze Affäre ist auch ein Lehrstück dafür, dass einmal geschriebenes Wort sich im Internet schlecht zurückziehen läßt: Nachdem die Herren von „Wiki Watch“ gegen FAZ und Zeit einstweilige Verfügungen erwirkten, wurden die Artikel zunächst vom Netz genommen. Zahlreiche Blogger, Journalisten und Internetaktive hatten den Text jedoch längst gesichert und zum Beispiel per Datendiensten wie Dropbox weiter verteilt, so dass weiterhin auf Kanälen wie Foren, Twitter oder bei Facebook weiter über das Thema diskutiert werden konnte. Wiki-Watch ist weiterhin online, erklärt die Wikipedia sowie den Umgang mit ihr und bietet sogar direkte Hilfe an, wenn man sich oder seine Firma bei Wikipedia in einem schlechten Licht dargestellt sieht. Praktischerweise auch gleich mit Link zu einer Website namens „Presserecht.de“, die von der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Johannes Weberling betrieben wird – dem aktuellen Leiter von Wiki-Watch.

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Beitragsbild: pixabay.com – geralt

René Gräber

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  1. Ja, Wikipedia ist eben doch keine richtige Enzyklopedie, das muss man wissen, wenn man sie nutzt… Gutr Artikel!

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